Schöpferische Zerstörung und disruptiver Wandel
Der wirtschaftliche Wandel nimmt immer mehr an Geschwindigkeit zu und Unternehmen müssen in kürzester Zeit auf tiefgreifende Veränderungen reagieren.
„Nichts ist so beständig wie der Wandel.“ Nur wenige Sprichwörter behalten über Jahrtausende ihre Aktualität wie jenes des griechischen Philosophen Heraklit aus dem 5. Jahrhundert vor Christus. Vor dem Hintergrund der immer schnelleren Umwälzungen unserer Lebenswelt scheint Heraklits Weisheit relevanter denn je. Im 21. Jahrhundert sind Menschen und Unternehmen mit einer Flut an bahnbrechenden Veränderungen konfrontiert, von der Digitalisierung über künstliche Intelligenz bis hin zum Klimawandel. Der vorliegende Beitrag beleuchtet, wie der aktuelle wirtschaftliche Wandel aussieht und welche Auswirkungen er hat. Am Beispiel einiger bekannter Unternehmen zeigt er auf, welche gravierenden Folgen es haben kann, diesen Wandel zu verschlafen.
Was sind schöpferische Zerstörung und disruptiver Wandel?
Wandel ist ein ständiger Begleiter unseres Alltags. Er gehört zu allen Facetten des Lebens, im Privaten wie im Wirtschaftlichen. Doch während sich im Privatleben Veränderungen meist über einen gewissen Zeitraum ohne größere negative Konsequenzen beiseiteschieben lassen, ist das Ignorieren von Veränderungen im Wirtschaftsleben ein Kardinalfehler, der eher früher als später bestraft wird. Im Zusammenhang mit dem Wandel der Wirtschaft fallen häufig zwei wesentliche Begriffe, deren Verständnis von essenzieller Bedeutung ist: „schöpferische Zerstörung“ und „disruptiver Wandel“.
Der Begriff der schöpferischen Zerstörung stammt aus der Makroökonomie und besagt, dass jede ökonomische Entwicklung auf einem Prozess der schöpferischen oder kreativen Zerstörung aufbaut. Durch technische Innovation und die Neuordnung von Produktionsfaktoren werden permanent alte Strukturen angegriffen und zerstört. Der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter machte Anfang des 20. Jahrhunderts die schöpferische Zerstörung zu einem wissenschaftlich anerkannten Begriff. Nach Schumpeter ist die kreative Zerstörung ein naturgegebener Prozess, der sich folglich durch nichts aufhalten lässt.
Während über viele Jahrhunderte das Wirtschaftsleben primär einem kontinuierlichen Wandel unterlag, nahm in den letzten Jahrzehnten die Bedeutung des sogenannten „disruptiven Wandels“ deutlich zu. Die Übersetzung des englischen Wortes „disruption“ (Bruch, Riss, Störung) macht klarer, worum es sich dabei handelt.
Im Gegensatz zu einem kontinuierlichen Wandel, bei dem sich Veränderung auf evolutorische Weise ergibt, werden bei einem disruptiven Wandel etablierte Geschäftsmodelle und Märkte innerhalb kürzester Zeit zerstört.
Im Regelfall löst ein technologischer Fortschritt einen disruptiven Wandel aus. Angesichts der massiven Beschleunigung des technologischen Fortschritts im Laufe des 20. und 21. Jahrhunderts hat sich die Häufigkeit von Disruptionen in jüngster Vergangenheit erheblich erhöht. Am besten lässt sich disruptiver Wandel anhand einiger Beispiele aus dem Wirtschaftsleben verdeutlichen.
Welche Technologien begründen einen disruptiven Wandel?
Eines der interessantesten, weil kurzlebigsten Beispiele für disruptiven Wandel ist die Musikindustrie. Nachdem die Compact Disc die Langspielplatte und Kassette obsolet machte, wurde die CD ihrerseits kurze Zeit später durch den MP3-Player abgelöst. Diesem war jedoch ebenfalls nur eine kurze Lebensdauer beschieden, er wurde schließlich durch das Smartphone ersetzt. Auch die Automobilindustrie steht gegenwärtig an der Schwelle zu einer doppelten Disruption. Zum einen wird der Verbrennungsmotor durch Elektroantriebe verdrängt und zum anderen zeichnet sich ab, dass sich Fahrzeuge in naher Zukunft autonom bewegen werden. Taxi- und Lkw-Fahrer sind demnach aussterbende Spezies.
Den vielleicht disruptivsten Wandel der jüngeren Geschichte hat das Internet ausgelöst. Ein Großteil unserer Einkäufe hat sich seitdem vom stationären Einzelhandel in den Online-Handel verlagert. Gleiches gilt für unseren Medienkonsum, der nicht mehr primär vor dem Fernseher oder mit der Zeitung in der Hand, sondern im Internet stattfindet. Und auch die Bank- und Versicherungsgeschäfte der meisten Menschen werden inzwischen nicht mehr in einer Filiale getätigt, sondern auf dem Smartphone.
Das ist erst der Anfang. Das Tempo der Digitalisierung nimmt in allen Wirtschaftsbereichen stetig zu und die Erforschung und Anwendung künstlicher Intelligenz, die ein enormes Potenzial für disruptiven Wandel besitzt, steckt erst in den Kinderschuhen. Unternehmen müssen sich vor diesem Hintergrund darauf einstellen, dass die Geschwindigkeit der Umwälzungen in Zukunft noch einmal zunimmt. Die nachfolgenden Geschichten bekannter Firmen, die den Wandel verschlafen oder ignoriert haben, seien deshalb als Lehrbeispiele zu verstehen.
Warum verschwand Nokia vom Markt?
Nokia ist das wahrscheinlich bekannteste Lehrbeispiel dafür, wie ein marktbeherrschendes Vorzeigeunternehmen innerhalb kürzester Zeit vom Markt verschwindet. Während Jugendlichen die finnische Firma kaum noch ein Begriff ist, waren fast alle Mitglieder der Generation der heute über 30-Jährigen einst im Besitz eines Nokia-Handys. Zu Beginn des Jahrhunderts war der finnische Konzern die klare Nummer eins auf dem internationalen Handy-Markt. Noch im Jahr 2006 lag der Handy-Marktanteil von Nokia bei über 50 Prozent. Doch innerhalb von nur fünf Jahren stürzte Nokias Marktanteil von 2007 bis 2012 von über 50 auf 3,5 Prozent ab. 2013 wurde die Handy-Sparte von Microsoft übernommen. Da jedoch auch die Windows Phones von Microsoft keinen Erfolg hatten, war der Firmenname „Nokia“ ein Jahr später Geschichte.
Was war passiert, um einen derart dramatischen Absturz eines Unternehmens auszulösen? Bis Anfang des Jahrhunderts war Nokia äußerst innovativ. In Kooperation mit Branchengrößen und Technologieführern wie Samsung, Motorola und Sony Ericsson entwickelte Nokia das Betriebssystem Symbian und brachte 1996 mit dem „Nokia Communicator“ das erste Smartphone auf den Markt, das diesen Namen auch tatsächlich verdiente.
Doch Nokia beging drei große Fehler, die in Kombination den rapiden Niedergang des Unternehmens auslösten:
- Das Betriebssystem Symbian war aufgrund seiner nicht gegebenen Nutzerfreundlichkeit ein Fehlschlag.
- Nokia fokussierte sich zu stark auf Hardware und nicht auf Software.
- Das Unternehmen antizipierte nicht die Veränderung des Handy-Markts durch Touchscreen-Geräte.
Der dritte Fehler war der wohl fatalste. Nokia unterschätzte den Hype, den die Markteinführung des ersten iPhones von Apple im Jahr 2007 auslöste. Der finnische Konzern rechnete nicht damit, dass ein Branchenneuling innerhalb eines Jahres die Spielregeln des Markts grundlegend verändern könnte. Zudem hatte das Management Sorgen, dass eine radikale Veränderung der Gerätearchitektur (weg von der Tastatur hin zum Touchscreen mit Apps) die Kunden des Unternehmens verstimmen würde. Als Nokia schließlich erkannte, dass die Zukunft ausschließlich den Touchscreen-Phones gehören würde, war es bereits zu spät. Das Unternehmen konnte den innerhalb weniger Jahre aufgelaufenen technologischen Rückstand gegenüber Apple und Samsung nicht mehr aufholen.
Nokia ist ein exzellentes Beispiel dafür, dass Hochmut vor dem Fall kommt. Vor dem Hintergrund seiner marktbeherrschenden Stellung ging das Management davon aus, die Spielregeln für den Handy-Markt mehr oder weniger bestimmen zu können. Dass ein Newcomer mit einer neuen Technologie einen disruptiven Wandel des Handy-Markts auslösen könnte, hatte das Nokia-Management nicht präsent. Eine fatale Fehleinschätzung für ein Technologieunternehmen.
Angesichts der immer höheren Geschwindigkeit des technologischen Wandels müssen vor allem technologiebasierte Unternehmen immer auf der Hut sein vor technologischem Wandel. Er kann zu massiven, wenn nicht sogar disruptiven Veränderungen eines Marktes führen. Um es mit den Worten des langjährigen Intel-CEO Andy Grove zu sagen: „Erfolg führt zu Selbstzufriedenheit. Selbstzufriedenheit führt zu Misserfolg. Nur die Paranoiden überleben.“ Mit etwas weniger Selbstzufriedenheit und etwas mehr Paranoia hielten wir heute vielleicht ein Nokia-Smartphone in der Hand.
Wie sah der Niedergang von Kodak aus?
Auch Kodak wurde Opfer eines Technologiewechsels. Im Gegensatz zu Nokia wurde dieser jedoch vom Unternehmen vorhergesehen. Trotzdem entschied sich das Management fatalerweise dagegen, dessen Vorreiter zu sein.
Was war geschehen? Kodak war über ein Jahrhundert lang eines der dominantesten Unternehmen der amerikanischen Wirtschaftsgeschichte. Im Jahr 1888 entwickelte Firmengründer George Eastman den weltberühmten Rollfilm. In Kombination mit einer Kamera aus Karton, die nur einen US-Dollar kostete, machte Eastman das Fotografieren um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert massentauglich. Im Jahr 1935 brachte sein Unternehmen den ersten Farbfilm für Hobbyfotografen auf den Markt und setzte damit im Fotomarkt für viele Jahrzehnte einen neuen Maßstab.
1975 ereignete sich im Hause Kodak eine der größeren Ironien der Wirtschaftsgeschichte. Ein Mitarbeiter des Unternehmens entwickelte eine der ersten digitalen Kameras der Welt. Doch anstatt dieses „Geschenk“ mit offenen Armen zu empfangen und die Welt der Fotografie abermals zu revolutionieren, entschied sich das Kodak-Management dazu, die neue Technologie in der Schublade verschwinden zu lassen. Das aus einem vermeintlich guten Grund: Ende der 1970er-Jahre lag der Marktanteil von Kodak bei Filmen bei 90 Prozent und bei Kameras bei 85 Prozent. Angesichts der Tatsache, dass Kodak sehr hohe Margen mit seinen Filmen verdiente, wollte das Management Gewinne nicht durch eine neue Kameratechnologie kannibalisieren.
Doch wenn die Geschichte eine Lehre für Unternehmen parat hat, dann die, dass sich technologischer Fortschritt und Wettbewerb nicht aufhalten lassen. Kodak bekam es in den Folgejahren mit beiden zu tun. Der Wettbewerb verschärfte sich durch den Angriff von Fuji-Film mit deutlich preiswerteren Filmen. Und der technologische Fortschritt kam Anfang des 21. Jahrhunderts, als Digitalkameras in technischer und preislicher Hinsicht massentauglich wurden. Das Geschäft mit den Digitalkameras machten jedoch vorwiegend japanische Konzerne wie Canon, Nikon und Olympus. Kodak sprang hingegen viel zu spät auf den digitalen Zug auf. 2012 meldete die amerikanische Industrieikone nach über 120 Jahren Geschichte Insolvenz an.
Kodak ist ein Paradebeispiel dafür, was einem Unternehmen droht, das nicht auf die Wünsche seiner Kunden reagiert. Anstatt den Kundenwunsch zu ermöglichen, Bilder digital aufzunehmen, sie zu speichern, zu bearbeiten und zu teilen, stellte das Management die Interessen des Unternehmens in Form höherer Margen für Filme in den Vordergrund. Der Rest ist Geschichte – so wie übrigens Digitalkameras heutzutage. Sie wurden nach einer nicht einmal zwanzigjährigen Geschichte von Smartphones vom Markt verdrängt.
Sony und der technologische Wandel der Musikindustrie
Ein weiteres Lehrbeispiel für verschlafenen technologischen Wandel ist der japanische Konzern Sony. Im Jahre 1979 gelang dem Elektronikriesen mit der Markteinführung des Walkman ein Coup. Jeder Mensch, der etwas auf sich hielt, war in den frühen 1980er-Jahren mit dem mobilen Abspielgerät für Kassetten unterwegs. Ende der 1980er-Jahre begann mit der Compact Disc eine neue Speicher- und Abspieltechnologie den Musikmarkt aufzurollen. Die Kassette hatte wenige Jahre später ausgedient.
Das gleiche Schicksal ereilte ein paar Jahre danach die CD. Ende der 1990er-Jahre kamen die ersten MP3-Player auf, die es ermöglichten, die gesamte private Musiksammlung unterwegs mitzunehmen. Der Erfolg des Apple iPods Anfang der 2000er-Jahre ließ die CD endgültig aus den Regalen verschwinden. Was ein MP3-Player oder ein iPod ist, wissen heutzutage nur noch die wenigsten Jugendlichen. Auch ihre Funktion wurde inzwischen vom Smartphone übernommen. Die Geschichte der Speichermedien und Abspielgeräte für Musik ist vielleicht das beste Beispiel dafür, welche Dimensionen die Geschwindigkeit des technologischen Wandels angenommen hat. Keine Technologie und kein Gerät der Welt kann sich heutzutage sicher sein, im nächsten Jahrzehnt noch zu existieren.
Neckermann, Quelle und die Wucht der Digitalisierung
Die beiden Unternehmen waren über Jahrzehnte Synonyme für das deutsche Wirtschaftswunder. Die Hunderte Seiten starken Kataloge der beiden Versandhandelsriesen gehörten von den 1950er- bis zu den 1990er-Jahren zum Inventar fast jedes deutschen Haushalts. Heute kennen nur noch die älteren Generationen diese historisch so bedeutenden Haushaltsnamen. Quelle ging im Jahr 2009 in Insolvenz, Neckermann wurde 2012 abgewickelt.
Wie kam es dazu, dass Menschen aller Altersgruppen heute bei Amazon & Co. und nicht mehr bei Neckermann und Quelle einkaufen? Die Antwort ist recht einfach: Beide Konzerne erkannten nicht die Macht des Online-Shoppings im Internet und verließen sich viel zu lange auf ihre Marktmacht im Versandhandel. Mit dem Siegeszug des Internets begann für die beiden Versandhändler ein Mehrfrontenkrieg:
- Von Konzernen wie Amazon wurden sie in allen Produktbereichen mit einem deutlich größeren Sortiment und meist günstigeren Preisen angegriffen.
- Spezialisierte Online-Händler machten den Versandhandelsriesen die Kunden in bestimmten Produktkategorien streitig.
- Die Kataloge der Versandhändler konnten nicht mit der Intelligenz und Fortschrittlichkeit des Internets mithalten. „Andere Kunden kauften auch“, Produktbewertungen, Fotogalerien und Videos von Produkten sind in Katalogen schlichtweg technisch nicht umsetzbar. Dass Kunden an derlei technischen Features Gefallen finden würden, erkannten die Unternehmensspitzen von Neckermann und Quelle zu spät.
Somit sind die beiden deutschen Handelsikonen ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, dass der dauerhafte Verlass auf die eigene Marktmacht und das Verschlafen einer disruptiven Innovation sehr schnell das Ende des Geschäftsmodells zur Folge haben kann.
Fazit
Die Beispiele von Nokia, Kodak, Sony, Neckermann und Quelle haben eindrücklich gezeigt, dass es sehr schnell das Ende für ein Unternehmen bedeuten kann, wirtschaftlichen oder technologischen Wandel zu ignorieren. Dementsprechend sollten Unternehmen Wandel immer aktiv annehmen und bestmöglich aus eigener Kraft mitgestalten. Firmen, die die Zeichen der Zeit nicht erkennen, müssen in der Regel mitansehen, wie sie von ihren Wettbewerbern oder Newcomern überrollt werden. Hier ist man gut beraten, ein altes chinesisches Sprichwort zu beherzigen: „Wenn der Wind der Veränderung bläst, bauen einige Menschen Mauern und andere Windmühlen.“
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